Fragen für die Nachrichtensendung SWR Aktuell zum ersten Jahrestag der Ermordung der 13-jährigen Luise am 11. März 2024
Zum Hintergrund:
Dpa, 5.3.2024 Ein Jahr nach gewaltsamen Tod von Luise: «Das Entsetzen bleibt»
Freudenberg (dpa) – Ein Jahr nach dem gewaltsamen Tod der zwölfjährigen Luise in Freudenberg in Nordrhein-Westfalen ist das Entsetzen vor Ort noch immer groß. In Gedanken sei man bei der Familie der getöteten Schülerin, sagte Bürgermeisterin Nicole Reschke (SPD) am Dienstag. «Den Schmerz, den sie erleiden mussten und müssen, ist unermesslich.» Rund um den Jahrestag sei der Gesprächsbedarf in der Stadt nahe Siegen enorm. Zwei Mädchen im Alter von damals 12 und 13 Jahren hatten gestanden, Luise am 11. März erstochen zu haben. Das Mädchen war laut Obduktion verblutet, ihre Leiche wurde einige Kilometer entfernt von ihrem Zuhause in einem Waldstück an der Grenze zu NRW in Rheinland-Pfalz gefunden. Die brutale Tat, das junge Opfer und das kindliche – damit strafunmündige – Alter der mutmaßlichen Täterinnen hatten bundesweit schockiert. Einen Strafprozess gibt es daher nicht, die Ermittlungen waren im September eingestellt worden. Die Hinterbliebenen haben vor dem Landgericht Koblenz allerdings Zivilklage gegen die beiden minderjährigen Täterinnen eingereicht, wie ein Gerichtssprecher am Dienstag berichtete. Für die erlittenen Qualen des zwölfjährigen Mädchens fordert die Familie unter anderem ein Schmerzensgeld von 50 000 Euro sowie je 30 000 Euro Hinterbliebenengeld für die nächsten Angehörigen. Sie machen laut Gericht geltend, bis heute erheblich unter dem Tod Luises zu leiden. Insgesamt gehe es um einen Streitwert von rund 160 000, schilderte der Sprecher. Anders als im Strafrecht können Kinder, die älter als sieben Jahre sind, für unerlaubte Handlungen haftbar gemacht werden.
Was können die Motive sein, wenn Hinterbliebene nach einer schrecklichen Gewalttat, mit einem öffentlichen Prozess wieder dieses schreckliche Geschehen an die Öffentlichkeit bringen?
Heute ist der erste Jahrestag der Ermordung, der Tötung von Luise. Für die Menschen, denen Luise genommen wurde, ist dies vermutlich noch als ob es gestern gewesen wäre. Deshalb ist es mir wichtig, zuerst einmal innezuhalten und den Hinterbliebenen und allen Angehörigen, allen Mittrauernden und allen Betroffenen meine aufrichtige Anteilnahme auszusprechen.
Um Ihre Frage gut beantworten zu können, müssen wir uns mit der Trauer auseinandersetzen. Jeder Trauerweg ist ein individueller Weg. Was mir Halt geben kann, kann einem anderen Trauernden nicht automatisch den gleichen Halt geben. Auch die Zeit und wie ich mich versuche wieder dem Leben und dem Alltag zu zuwenden, bleibt unterschiedlich: ich kann nach drei Tagen, drei Wochen oder nach drei Jahren wieder am Arbeitsleben oder an Treffen mit Freunden teilnehmen – hierfür kann es keine allgemeinen Standards geben. Und deshalb müssen wir uns als Außenstehende davor hüten, individuelle Trauerprozesse zu bewerten. In den meisten Trauerwegen wird die Frage nach dem Warum gestellt: Warum musste uns das Geschehen? Beim Tod durch Krankheit, beim plötzlichen Tod, beim plötzlichen Tod durch einen Unfall oder einer Naturkatastrophe und noch viel massiver beim Tod durch eine Gewalttat kommt sie: die Warum-Frage. Und in der Suche nach einer Antwort auf dieses Warum ist nicht aushaltbar, dass ein Leben zu zerstören, ungesühnt bleibt. Sühne ist ein uns heute eher unvertrautes Wort. Gemeint ist der Versuch eine Schuld wieder gut zu machen oder wenn dies nicht möglich ist, wenigstens einen Ausgleich für die Schuld zu schaffen.
Im Fall von Luise haben die Eltern nun den Weg einer Zivilklage auf Schmerzensgeld und Hinterbliebenengeld gewählt. Ein Strafprozess war wegen der Strafunmündigkeit der Mädchen, die Luise getötet haben, nicht möglich. Über diese Zivilklage werden die Gerichte nach den Regeln unseres Rechtsstaates entscheiden. Egal wie das Ergebnis ausfallen wird, wird dieses Urteil eine Etappe auf dem individuellen Weg der Hinterbliebenen in ihrer Trauerbearbeitung sein. Das Thema Schmerzensgeld und Schadenersatz ist uns in der Nachsorge bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen vertraut. Wir müssen uns dabei vor einem Missverständnis hüten: niemand, auch die Hinterbliebenen nicht, wiegen den Wert eines Menschen in Geld auf. Die materielle Leistung Geld kann den Menschen, kann Luise nicht mehr lebendig machen. Die materielle Leistung ist aber eine öffentliche Anerkennung des erlittenen Schadens und kann in der Bearbeitung dieses schmerzlichen Verlustes eine nicht zu unterschätzende Hilfe sein, mit dem Schmerz leben zu können. Und hier, finde ich, haben wir Außenstehenden und die Öffentlichkeit kein Recht dies zu bewerten. Wir wissen, wie verletzend solche öffentliche Bewertungen nach Katastrophen, wie der Katastrophe in Ramstein vor 40 Jahren, für die Verletzten und Hinterbliebenen waren. Mit verletzenden öffentlichen Bewertungen wird zum kaum vorstellbaren erlittenen Leid neues Leid geschaffen.
Wie kann das Miteinander im Umfeld von Luise nach einem Jahr nun weitergehen?
Ja, hier gibt es ganz viele unterschiedlich betroffene Menschen, die mit dieser Tat schreckliches verbinden und erinnern, die darunter leiden. So gibt es ganz unterschiedliche Perspektiven. Hier gilt eine Grundregel: Wir dürfen Leid nicht miteinander vergleichen. Vergleiche führen schnell zum gegeneinander aufwiegen und relativieren. Jedes Leid muss individuell gesehen und bearbeitet werden.
Zu den verschiedenen Perspektiven: Hinterbliebene müssen ihren Trauerweg weitergehen, sie werden nicht mit einem Urteil oder anderer öffentlicher Anerkennung mit einem Verlust abschließen können. Sie müssen diesen Weg weitergehen bis bei allem bleibenden Schmerz eine neue Zukunft, neuer Sinn sichtbar wird.
Aber auch jede und jeder andere Betroffene durchlebt und bearbeitet sein Tun und Erleben dieser Gewalttat: angefangen von den Mädchen, die Luise getötet haben und ihren Angehörigen bis hin zu den ermittelnden Polizistinnen, Polizisten und Rettungskräften und dem ganzen Umfeld. Auch hier müssen die Erlebnisse, Erinnerungen und die damit verbundenen Gedanken und Gefühle ernstgenommen werden. Auch hier gilt: Zeit für das Verarbeiten lassen und Hilfe annehmen und nutzen. Stärke ist nicht schwere Wege allein gehen. Stärke ist auch nicht alles möglichst schnell hinter sich lassen zu wollen. Stärke ist sich Zeit lassen, sich selbst und anderen, um nach diesem schrecklichen Geschehen neue Kraft, neuen Sinn zu finden. Stärke ist auch, sich gegenseitig dabei zu helfen und Hilfe anzunehmen.
Je entfernter wir zur getöteten Luise und ihren Hinterbliebenen stehen, desto größer ist oft der Wunsch, nicht alles wieder in einem Prozess miterleben zu müssen. Die Anteilnahme mit den Hinterbliebenen und ihrem persönlichen Trauerweg, gebietet es aber, dass wir diesen Weg respektieren und ihm keine Steine in den Weg legen, indem wir ihn mit unseren persönlichen Maßstäben beurteilen.
Und eine weitere Erfahrung ist mir bei dieser Frage besonders wichtig: Wenn neben Niedergeschlagenheit Wut spürbar ist, dann gehört dies zu Trauerprozessen: etwas Schreckliches ist auszuhalten. Berechtigte Wut darf aber nicht in Hass umschlagen. Hass frisst von innen auf. Hass lenkt unser Denken und Handeln weg von der jeweiligen Schreckenstat und der erlebten Ohnmacht. Hass lenkt uns hin zu Personen, Menschen, denen man schaden will bis zur Vorstellung, dass man diese Menschen auslöschen will. Im Unterschied zur Sühne für eine Schuld hilft Hass nicht bei der Verarbeitung von Gewalt und Verlusten. Jede Gewalt, jeder gewaltsame Tod ist ein Verlust an Menschlichkeit, was wir in den aktuellen Kriegen in der Ukraine oder in Israel und Palästina erleben können. Und wir wissen aus unserer Geschichte nach dem zweiten Weltkrieg wie lange der Weg von der Sühne zur Versöhnung dauert. Versöhnung wird erst möglich, wenn vergeben nicht vergessen bedeutet. Denn vergessen wird als Verrat an dem geliebten und nun toten Menschen erlebt.
Jede, jeder von uns hat so am eigenen Platz, egal wie nahe bei Luise oder anderen betroffenen Menschen seine wichtige Aufgabe. Statt mit dem Finger auf andere zu zeigen, Augen, Herz und Mund auf, damit Mobbing und Hass in sozialen Netzwerken und anderen Orten keinen Menschen mehr tötet und dass wir als Gesellschaft entschieden handeln gegen eine innere Verrohung von jung bis alt, die Leben durch Gewalt verletzt und tötet.
Von Dr. Bernd Steinmetz
Stiftung Katastrophen-Nachsorge